Von der Hierarchie zu …? Warum das klassische Führungsmodell ausgedient hat
In Situationen der Unsicherheit erfolgt häufig der Reflex nach Führung bzw. Rat und die Delegation von Entscheidungsnotwendigkeiten auf Andere. „Frau/Herr XY hat gesagt, dass wir das so machen!“ – der Klassiker, wenn es darum geht Verantwortung auf Andere abzuwälzen. Warum ist das eigentlich so? Dieser Artikel soll zum Nachdenken anregen: über die eigene Arbeit, die Rolle im Unternehmen – ein Plädoyer, Verantwortung zu übernehmen.
Die begriffliche Auseinandersetzung mit Führung, Management und Hierarchie ist – wie so häufig – ein guter Startpunkt.
Das Gabler Wirtschaftslexikon definiert Führung als „Ausrichtung des Handelns von Individuen und Gruppen auf die Verwirklichung vorgegebener Ziele; beinhaltet asymmetrische soziale Beziehungen der Über- und Unterordnung.“ Dieses klassische Führungsverständnis basiert auf einer klaren Organisation und Hierarchie, ähnlich, wie man es aus so gut wie jeder Organisationsmatrix kennt:
Jeder, der bereits einmal mit der GenZ zusammengearbeitet hat weiß, dass Führung so nicht mehr funktionieren kann.
Einer der bekanntesten Organisations- und Wirtschaftspsychologen, Lutz von Rosenstiel, definiert Führung dagegen so: „Führung ist die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen“*.
Der wohl größte Unterschied ist die damit verbundene Hierarchie. Während die klassische Definition für Führung eine asymmetrische Beziehung (Hierarchie) innerhalb des Unternehmens voraussetzt, wird dies von Rosenstiel nicht als Voraussetzung für Führung anerkannt.
Warum ist Hierarchie keine Voraussetzung für Führung?
Ein Blick in ein Projekt- oder Unternehmensmeeting lässt hier bereits Schlüsse zu. Ein klassisches Meeting: Die Führungskraft ist gemeinsam mit Mitarbeitenden im Meeting, um ein Fachthema zu diskutieren. Die Erfahrung zeigt: Die Führungskraft wird auf die Meinung der Expert:innen vertrauen. Wer hat nun dieses Meeting geführt? Die hierarchisch definierte Führungskraft oder die Mitarbeitenden mit Expertise? Diese Situation ist sinnbildlich dafür, dass es – zumindest in der modernen Unternehmenskultur – keiner vorgegebenen Hierarchie bedarf, um zu führen.
Wozu braucht es dann also Hierarchie?
Die Problematik erkannte schon früh einer der Pioniere der modernen Managementlehre, Peter Drucker. Er betonte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei Thesen, auf die Unternehmen sich einstellen müssen**:
- Das Wichtigste in der Managementarbeit ist es Ziele zu haben, sie zu verstehen und sie anderen zu setzen
- Die Notwendigkeit der Dezentralisierung, um Flexibilität und Verantwortlichkeit zu fördern
- Wissen ist die einzige bedeutende Ressource in der postkapitalistischen Gesellschaft
Ein Konzept, welches diese Thesen versucht in die Praxis zu migrieren, ist die Holokratie. Diese Organisationsstruktur zielt darauf ab, traditionelle Hierarchien abzubauen. Der Ansatz wurde von Brian Robertson, einem Unternehmer aus Philadelphia, USA, entwickelt. Er basiert auf einem Führungs- und Verwaltungsansatz, der Entscheidungsfindung und Machtverteilung auf alle Mitglieder einer Organisation ausweitet, um eine inklusive, partizipative und effiziente Arbeitsumgebung zu fördern. Kennzeichnend für die Holokratie ist ihre Ausrichtung auf Transparenz und die Förderung partizipativer Mitwirkungsmöglichkeiten innerhalb der Organisation, gestützt durch ein klar definiertes Regel-Set. In der Praxis: über Rollen und dezentrale – hierarchiefreie – „Kreise“ (Komposita von verschiedenen Rollen) werden Unternehmensaktivitäten organisiert und eigenständig gesteuert.
Schnell kommen die Unkenrufe: „Das ist unrealistisch. Das kann nicht funktionieren“ – ja vielleicht / vielleicht auch nicht – Es ist zumindest ein neuer Denkanstoß, der auch im eigenen Umfeld für Flexibilität sorgen kann: allein schon dadurch, dass man es anders denkt. Erste Unternehmen in den USA sind bereits seit 2015 dabei, die Prinzipien der Holokratie flächendeckend im Unternehmen einzuführen. Der Erfolg wird sich zeigen. Die Frustration vieler Mitarbeitenden in ihrer Organisation resultiert der Erfahrung nach häufig aus fehlender Mitbestimmung, vermeintlicher Ahnungslosigkeit der Führungskräfte in den Fachthemen und langwierigen Prozessen.
Der Denkanstoß durch die Holokratie ist zumindest ein spannendes Gedankenkonstrukt – mal sehen, was daraus wird…
Verfasser: Christian Grabner
* Rosenstiel, Führung von Mitarbeitern: Handbuch für erfolgreiches Personalmanagement. 2009, S. 3
** vgl. Drucker, P.:
1: The practice of management. 1954. S. 128ff.;
2: Management: Tasks, Responsibilites, Practices. 1973. S. 25ff.;
3: Die postkapitalistische Gesellschaft. 1993. S. 267